"Die NLD wird die Wahlen gewinnen"

Aung San Suu Kyi
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Die oppositionelle NLD wird von Aung San Suu Kyi geführt

Am 8. November wählt Myanmar ein neues Parlament. Wie stehen die Chancen der Oppositionsparteien und was kann die Wahl verändern? Ein Interview mit Sui Khar, Generalsekretär der Chin National Front.

Heinrich-Böll-Stiftung: Dr. Sui Khar, wie schätzen Sie die Vorbereitungen der ethnischen politischen Parteien für die nächsten Wahlen am 8. November 2015 ein?

Dr. Sui Khar: Die ethnischen Parteien sind schon seit Langem gut für die Wahlen gewappnet. Insbesondere die Nationalities Brotherhood Federation (NBF), ein Bündnis aus 20 ethnischen politische Parteien, trifft sich schon seit drei Jahren regelmäßig alle drei Monate, um sich auf die Wahlen vorzubereiten. Auch im Chin-Staat koordinieren mehr als zehn ethnische politische Parteien ihre Arbeit, um den beiden großen Parteien – der National League for Democracy (NLD)1 und der Union Solidarity and Development Party (USDP)2 – ihren gemeinsamen Gegnern, etwas entgegenzusetzen zu haben.

Dadurch sind ihre Erwartungen, die Wahlen in den Regionen zu gewinnen, sehr hoch. Wir beobachten auch, dass die Parteien die jüngsten Überschwemmungen und Erdrutsche3 zu ihren Zwecken nutzen, indem sie den lokalen Gemeinschaften humanitäre Hilfe leisten. Aus meiner Sicht haben die ethnischen Parteien bereits Anfang 2015 ihren „stillen“ Wahlkampf begonnen4

Wie sieht es aus mit den Vorbereitungen in den Konfliktregionen?

Ich denke, dass es in den meisten Konfliktregionen unmöglich sein wird, Wahlen abzuhalten. Das wiederum spielt dem Militär in die Karten. Ganz gleich ob es Wahlen gibt oder nicht, das Militär wird seine 25-Prozent-Quote an Vertretern aus diesen Regionen in das Parlament schicken. Daher glaube ich, dass es in den Konfliktregionen keine Wahlen geben wird.

Wie bewerten Sie als einer der ethnischen politischen Führer die moralische, rechtliche und politische Legitimation dieser Wahlen?

Die politischen Parteien und die landesweite Wahlkommission, die Union Election Commission (UEC), versichern, dass diese Wahlen frei und fair sein werden. So unterzeichneten alle politischen Parteien einen Wahl-Verhaltenskodex und Leitlinien, die ethisch korrektes Verhalten am Wahltag gewährleisten sollen. Auch die Tatsache, dass die UEC ein Memorandum of Understanding mit dem Carter Center und der Europäischen Union unterzeichnet hat und internationalen Beobachtern erlaubt, die Wahlen intensiv zu begleiten, kann als Hinweis auf die ernsthafte Vorbereitung der Wahlen gewertet werden.

Daher denke ich, dass die derzeitige Regierungspartei keine Möglichkeit hat, die Wahlen zu fälschen, um als Sieger daraus hervorzugehen, so wie sie es 2010 getan hat. Überraschenderweise sind aber die USDP und das Militär sehr sicher, dass sie die neue Regierung bilden werden. Ich weiß nicht, ob sie irgendetwas im Schilde führen. Anders als im Jahr 2010 hat sich die UEC sehr bemüht, rechtliche Mechanismen einzurichten. So wurden zum Beispiel Anträge von Kandidaten, die vor einigen Monaten zunächst abgelehnt worden waren, letztendlich von der UEC doch angenommen, nachdem Änderungen entsprechend den gesetzlich vorgeschriebenen Verfahren gemacht wurden. Dazu gehörte auch ein Chin-Kandidat, der sich im Rakhaing-Staat zur Wahl stellt.

Denken Sie, dass ethnische politische Parteien mit der USDP oder der NLD koalieren würden, um ihre politischen Ambitionen zu verwirklichen?

Wenn wir uns die Wahlvorbereitungen der unterschiedlichen Parteien anschauen, erscheint mir das ganz eindeutig möglich. Die NLD hat bereits traditionell einen ethnischen Bündnispartner, die United Nationality Alliance (UNA). Trotz einiger kleinerer Unstimmigkeiten zwischen den beiden Parteien ist es offensichtlich, dass die UNA mit der NLD koaliert, wenn diese einen Partner braucht, um eine neue Regierung zu bilden. Ich gehe auch davon aus, dass die NBF mit der USDP ein Bündnis eingehen würde, denn die NLD hat in den vergangenen drei Jahren weder offiziell mit ethnischen Gruppen zusammengearbeitet noch ethnische Fragen angesprochen. Darüber hinaus hätte die NBF kein Problem, mit der USDP eine Regierung zu bilden, denn die USDP – das hat die Erfahrung der vergangenen Jahre gezeigt – ist sowohl fähiger als auch stärker bereit, ethnische Fragen aufzunehmen.

Welche Wahlkampfthemen und politischen Ziele haben die ethnischen Parteien?

Politische Priorität der meisten ethnischen politischen Parteien ist eine Verfassungsänderung. Die Kampagnen konzentrieren sich daher auch auf eine Verfassungsergänzung, die Föderalismus, Gleichberechtigung der ethnischen Minderheiten und Infrastrukturentwicklung der ethnischen Regionen verankert. Konkret: Die gesellschaftlichen, kulturellen und wirtschaftlichen Rechte der ethnischen Minderheiten werden Toppriorität haben. Dazu gehört zum Beispiel auch die Forderung nach Schutz und Förderung der ethnischen Sprachen und Kulturen.

Welche Ergebnisse werden die ethnischen Parteien in den Wahlen im November voraussichtlich erzielen?

Die Wahlergebnisse werden sich von Region zu Region und von Staat zu Staat unterscheiden. Im Chin-Staat zum Beispiel treten mehr als zehn ethnische politische Parteien an. Sie kämpfen aber nicht um dieselben Wähler, sondern teilen quasi die Wahlkreise unter sich auf. Jede Partei hat Regionen oder Wahlkreise, in denen sie besonders stark ist. Weder die NLD noch die USDP hat eine umfassende Politik oder politische Botschaft in Bezug auf die ethnischen Gruppen. Die NLD könnte in Zentral-Myanmar vorn liegen, aber nicht in den ethnischen Regionen. Daher denke ich, dass viele der ethnischen Parteien ihre Wahlkreise gewinnen werden.

Wie einflussreich sind Ihrer Meinung nach die ethnischen Parteien, wenn es um die Regierungsbildung geht?

Offensichtlich können die ethnischen Parteien keine Regierung bilden, noch nicht einmal, wenn sie in ihren Regionen mit Abstand stärkste Partei werden. Bei der Regierungsbildung jedoch werden sie dennoch eine gewichtige Rolle spielen, denn ich gehe davon aus, dass keine einzelne Partei die Mehrheit gewinnt. Ich nehme an, dass weder die NBF noch die UNA 15 Prozent der Sitze erhalten – dann sind die ethnischen Parteien in der Rolle der Königsmacher. Sie werden keine Könige sein, sondern den König machen.

Was sind angesichts der Erfahrungen aus der Vergangenheit die größten Herausforderungen und Stärken der ethnischen politischen Parteien?

Die Wahlen im November sind von großer Bedeutung und eine noch größere Herausforderung als im Jahr 2010, als die NLD und die UNA – die Sieger der Wahlen im Jahr 1990 – gegeneinander kämpften. Die größte Herausforderung für die ethnischen Parteien, die bereits 2010 angetreten sind, ist ihre Bilanz im Parlament während der vergangenen fünf Jahre. Viel haben sie bisher nicht erreicht, von der Verabschiedung des Gesetzes zum Schutz der Rechte der ethnischen Gruppen einmal abgesehen5.  Und sie konnten die Verabschiedung des Gesetzes zum Schutz von Rasse und Religion nicht verhindern – ein Gesetz, das die meisten ethnischen Gruppen nicht unterstützen6.  Aber die Wahlen bieten den ethnischen Parteien potenziell eine große Chance, bei der Regierungsbildung eine entscheidende Rolle zu spielen.

Wie könnte sich die Wahl auf den Friedensprozess auswirken?

Die Öffentlichkeit ist besorgt, dass die Wahlergebnisse den aktuellen Prozess wieder umkehren könnten. Aber das glaube ich nicht. Wenn wir uns die aktuellen Waffenstillstandsverhandlungen oder den Friedensprozess genau ansehen, erkennen wir, dass er nicht viel mit den Wahlen zu tun hat. Die Waffenstillstandsverhandlungen finden zwischen dem Militär und bewaffneten ethnischen Organisationen statt.

Wenn die USDP die nächste Regierung bildet, wird der Friedensprozess reibungslos weiterlaufen. Gewinnt allerdings die NLD die Wahlen, ist mit einer gewissen Verzögerung zu rechnen, denn die NLD-Vertreter werden etwas Zeit benötigen, um mit dem Militär eine Einigung über den Friedensprozess zu erzielen. Die Frage ist, in welchem Maße das Militär bereit ist, mit der NLD zusammenzuarbeiten. Ich bin da eher skeptisch. Der gesamte Friedensprozess könnte ins Stocken geraten, wenn es der neuen Regierung und dem Militär nicht gelingt, eine gemeinsame Verhandlungsbasis zu schaffen.

Was erwarten Sie vom politischen Reformprozess?

Erstens wird sich die neue Regierung auf gute Regierungsführung konzentrieren und Korruption effektiver bekämpfen. Zweitens wird die Macht stärker zwischen der Zentralregierung und den Staats- und Regionalregierungen aufgeteilt7. Die Regierung Thein Sein war die ersten drei Jahre nach der Machtübernahme 2011 komplett zentralisiert, und alle Entscheidungen wurden von der Zentralregierung in Naypyidaw gefällt.

Ab Mitte 2014 erhielten die Staats- und Regionalregierungen mehr Entscheidungsbefugnisse. So werden jetzt Entscheidungen über Entwicklungsprojekte, die weniger als eine Milliarde Kyat8 kosten, von den Staats- und Regionalregierungen getroffen. Ich denke, die nächste Regierung wird die Dezentralisierung weiter vorantreiben. Darüber hinaus werden viele Gesetze geändert werden, etwa das Gesetz über ausländische Investitionen, das nach Ansicht vieler einseitig die Investoren begünstigt.

Welche Zukunft sehen Sie für Myanmar?

Wir alle gehen davon aus, dass die NLD die Wahlen gewinnen wird. Allerdings lassen mich der Machtkampf und der Wettbewerb in der USDP im August  skeptisch werden, was die Zukunft des künftigen politischen Klimas betrifft. Beides könnten Anzeichen dafür sein, dass sich die USDP und das Militär auf die Bildung der nächsten Regierung vorbereiten, ganz gleich wie die Wahlen im November ausgehen. Es ist wichtig zu beobachten, in welche Richtung sich das politische Klima in Myanmar bewegt.

Dr. Sui Khar, herzlichen Dank für das Interview.

Das Interview wurde von Rual Lian Thang, Heinrich-Böll-Stiftung Büro Myanmar, geführt.

Dieser Beitrag ist Teil unseres Dossiers zu den Wahlen in Myanmar.

 

Fußnoten:

[1] Die wichtigste Oppositionspartei der Nobelpreisträgerin Aung San Suu Kyi.

[2] Die Regierungspartei, die mit dem Militär verbunden ist.

[3] In der jüngsten Monsun-Saison erlebten mehrere Regionen in Myanmar, unter anderem der Chin-Staat, verheerende Überschwemmungen.

[4] Offiziell durften die Parteien ihren Wahlkampf erst nach dem 8. September beginnen.

[5] Das Gesetz wurde 2015 zum Schutz der Rechte der ethnischen Gemeinschaften verabschiedet. Unter anderem ist unter dem neuen Gesetz ein Ethnic Affairs Ministry vorgesehen, das den Minderheiten ermöglicht, ihre Sprachen und Literatur zu studieren und ihre Kulturen und Traditionen fortzuführen.

[6] Das Gesetz zum Schutz von Rasse und Religion wurde sowohl von ethnischen Gruppen als auch von Menschenrechtsorganisationen kritisiert. Es schütze, so die Kritiker, ausschließlich die Kultur der Bama und den Buddhismus. Das Gesetz enthält einige auffallende Bestimmungen, z. B. müssen Menschen, die zu einer anderen Religion konvertieren möchten, eine behördliche Genehmigung einholen, nichtbuddhistische Männer unterliegen diskriminierenden Auflagen, wenn sie eine buddhistische Frau heiraten möchten, und das Gesetz zielt darauf ab, in einigen Gebieten die Intervalle zwischen den Geburten von Kindern auf bis zu 36 Monate auszudehnen (die Gebiete werden nicht genannt, die Bestimmung könnte aber diskriminierend angewendet werden).

[7] Die Unterscheidung zwischen „Staaten“ und „Regionen“ ist keine verwaltungstechnische Frage. Manche Regionen werden als „Staaten“ bezeichnet, wenn die Mehrheit der Bevölkerung einer ethnischen Gruppe angehört.

[8] Etwa 700 000 €.

[9]  Der Parteiführer Shwe Mann, dem man zu intensive Kontakte mit anderen Oppositionsparteien nachsagte, insbesondere der NLD, wurde wahrscheinlich auf Drängen von Partei-Hardlinern seines Amtes enthoben.